Populäre Musik und Ästhetik. Die historisch-philosophische Rekonstruktion einer Geringschätzung. Von Michael Fuhr.
Texte zur populären Musik Bd.3, 151 S. Erschienen im transcript-Verlag.
rezensiert von CHRISTINA FELLENBERG
Von Rezensionen |
Popmusik und Ästhetik galten lange Zeit als unvereinbare Kategorien. Aufgrund der Vormachtstellung der normativen Autonomieästhetik, die den musikalischen Text bzw. das Kunstwerk in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, wurde die Ausgrenzung der populären Musik aus der ästhetischen Betrachtung aber auch die Musikwissenschaft selbst legitimiert.
Die Arbeit trägt dem aktuellen Gegensatz zwischen Alltagspraxis (Demokratisierung von Zugangsweisen, Pluralität der Rezeption) und musikwissenschaftlicher Trennung der beiden Musiksphären, die einem bestimmten Kulturbegriff verhaftet ist und Popmusik ex negativo fasst, Rechnung.
Michael Fuhr hat Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte studiert und arbeitet derzeit am Ethnologischen Museum Berlin im Bereich „Musikethnologie/ Berliner Phonogramm-Archiv“. Darüber hinaus ist er Mitarbeiter am EU-Projekt Dismarc – Discovering Music Archives. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Popkultur, Musikethnologie, Koreanische Musik, Ästhetik sowie Medientechnik, Archive und Datenbanken.
Zu Beginn fragt Fuhr nach der möglichen Anwendung des Kantischen Konzepts vom „Interesselosen Wohlgefallen“ auf die ästhetische Betrachtung der Popmusik, wobei er weniger auf die Beantwortung der Frage abzielt, als vielmehr einen roten Faden entwirft, um die methodischen Schwierigkeiten dieses Unterfangens herauszuarbeiten.
Fuhr geht von der Prämisse aus, dass Ästhetik eine Ideologie darstellt, wobei der ideologische Charakter ästhetischer Konzepte durch die Analyse von außermusikalischen Bedingungen (historisch, sozial) aufgedeckt werden kann.
Von besonderem musikethnologischem Interesse ist die Dekonstruktion der Dichotomie „Kunstmusik“ vs. „Popmusik“ über ihre historische Herleitung und Verankerung in der Sozialgeschichte und im philosophischen Diskurs. In dieser Arbeit orientiert sich Fuhr in Anlehnung an die Diskursanalyse Foucaults an einem diskursiv konstruierten Begriff der populären Musik. „Da eine Beschäftigung mit populärer Musik im ‚wilden Außen’ des musikwissenschaftlichen Diskurses platziert erscheint, stellt sich die erforderliche Aufgabe, die Ausschließungsmechanismen und internen Kontrollprozeduren des Diskurses aufzuzeigen und in ihrer geschichtlichen Dynamik zu veranschaulichen“ (Fuhr 2007: 17).
Im dritten Kapitel stellt Fuhr die beiden alternativen Lesarten bzw. Gegenstrategien der Popmusik vor: die Aufwertung der populären Musik als Kunst und die Untersuchung der populären Musik als kulturelle Praxis, wie es Konzepte Bourdieus und der Cultural Studies (ausgehend von einem demokratisierten Kulturbegriff), aber auch die Ästhetik des Körpers fassen können. An konkreten Beispielen (Rockmusik, Techno, World Music) wird dies illustriert.
Das Feld der populären Musik wird innerhalb unterschiedlicher Interessen der beteiligten Akteure (Musiker, Produzenten, Industrie, Medien, Kritiker, Rezipienten), aber auch in Rahmen externer Faktoren (politische Umwälzungen, ökonomische Krisen, technologische Entwicklungen) ausgehandelt. Die Prozesse der Bedeutungsbildung kultureller Texte sind aufseiten der Akteure keineswegs so passiv oder manipuliert, wie Kritiker der Kulturindustrie häufig behaupten, sondern sie eröffnen durchaus Handlungsspielräume, in denen Konsum in sich wandelnden Machtkonstellationen Widerstands- oder kreatives Potential freisetzen kann.
Die Musikwissenschaft gab bisher der populären Musik nicht genügend Raum, was vor allem in den drei miteinander verwobenen Aspekten der Terminologie, Methodologie und Ideologie begründet liegt. Im Zentrum dieser Arbeit steht jedoch weniger eine Methodenkritik der Musikwissenschaft, als vielmehr die Auseinandersetzung mit Theorieproblemen über populäre Musik. Welche Rolle der Musikwissenschaft innerhalb des Diskurses über populäre Musik, in dem sie bisher eine marginale Stellung einnahm, zukommen kann, hängt von der Bereitschaft ab, ein Methodenbewusstsein für den neuen Gegenstand unter Voraussetzung einer grundlegenden Kritik ihrer eigenen ästhetischen Prinzipien und einer interdisziplinären Aufgeschlossenheit (Soziologie, Cultural Studies, Poststrukturalismus) zu entwickeln, um letztlich die Text-Kontext-Gewichtung neu zu verhandeln.