“Also ich öffne sozusagen nur Türen. Türen zur Vergangenheit, zu dieser Energie, diesem Mystizismus und dann mache ich sie wieder zu. Und dann ist das Konzert zu Ende.”
Mariana Sadovska war auf dem TFF 2008 vielleicht das überzeugendste Beispiel dafür, wie man aus der Verinnerlichung der Tradition (repräsentiert durch den ukrainischen Frauenchor „Drevo“) eine neue tiefe experimentelle Folklore schaffen kann (repräsentiert durch ihre Band „Borderland“). Geboren in der Ukraine, jetzt in Köln lebend, hat sie die alten Lieder ihrer Heimat nicht nur gesammelt, sondern sie auch gelebt und mit Jazz-Elementen aus ihrer New Yorker Zeit bereichert. Gesang ohne rituellen Kontext, ohne die Magie des Alltags ist für sie unvorstellbar. TINYA hat diese charismatische junge Frau im Regen getroffen nachdem ihre markerschütternden Frühlingsrufe im Rudolstädter Nachthimmel verhallt waren.
Von Tanz- und Folkfest Rudolstadt 2008 |
Über ihre ersten Kontakt mit der traditionellen ukrainischen Musik
„Ich bin in der Stadt aufgewachsen, obwohl meine Omas in den Dörfern gelebt haben. Und meine Kindheit hat mich sehr stark beeinflusst. Ich habe einfach angefangen meine Oma aufzunehmen, die Lieder, die sie und ihre Schwester kennen. Und dann irgendwann war ich in den Karpaten ganz oben, hoch in den Bergen wandern. Und plötzlich in einer Hütte, hoch oben in den Bergen, hat eine Oma gesungen. Und ich saß da, ohne Mikrophon, ohne gar nichts und habe die Noten aufgeschrieben. Das hat mich so beeinflusst: diese Art wie sie gesungen hat und alles war irgendwie weit weg von Allem. Du hast dort einfach kein Radio und kein Fernsehen, sondern nur deinen Gesang. Und dann geht die Sonne unter, du sitzt am Berg und auf dem Berg gegenüber sitzt ein Mann und spielt Flöte. Und das gibt es heute noch. Davon war ich einfach fasziniert.“
Was haben diese Lieder für uns im 21. Jahrhundert für eine Bedeutung?
„Ich erzähle und versuche den Menschen eine Atmosphäre näher zu bringen. Eigentlich versuche ich mehr Fragen zu stellen. Was war das? Vermissen wir das? Ist das nur lustig? Was ist das für eine Welt? Weil diese Fragen auch mich selbst interessieren. Wie kommt das jetzt in unsere Internet-Zeit, ins Medien- und Informationszeitalter? Warum weint ihr, wenn ihr nicht versteht, worüber wir singen? Was berührt uns daran? Mir ist ganz bewusst, dass es da eine Kraft gibt, die berührt.“
Ihre Gruppe heißt „Borderland“ – fühlen Sie sich als musikalische Grenzgängerin?
„Der Name unseres Staates Ukraina bedeutet, wenn man es genau übersetzt, ,auf der Grenze’. Und da habe ich sofort gedacht, dass das gut passt zu dem, was ich versuche zu machen. Dieses Balancieren auf der Grenze und das Überschreiten dieser Grenze. Denn die interessantesten Sachen passieren dort, wo es Vermischungen gibt. Der Unterschied zwischen mir und ‚Drevo’ ist, dass, wenn ich so versuchen würde zu singen wie sie eine schlechte Kopie herauskommen würde. Weil ich tatsächlich wie sie auf die Felder gehen müsste, tatsächlich Kühe melken müsste, ich müsste dort leben so wie sie. Ich bin zwar fasziniert von den Ritualen meiner eigenen Kultur, aber natürlich kann ich nicht auf die Felder gehen und für den Frühling rufen, das kann ich einfach nicht.“
Was fühlen Sie, wenn Sie mit „Borderland“ vor den alten Sängerinnen auf der Bühne stehen?
„Gestern war es für mich so, als ob meine Mutter im Raum sitzt. Vor deiner eigenen Mutter kannst du dich einfach nicht verstecken. Du stehst da und die verstehen jedes Wort und die spüren jede falsche Note, jede Pose, sie lesen alles in deinem Gesang.
Das erste Mal, dass ich vor den Sängerinnen auf der Bühne stand ist lange her. Es war in einem Theater in Polen, wo ich gearbeitet und ein Festival mit ukrainischer Musik organisiert habe. Es war das erste Mal, dass ich „Drevo“ in den „Westen“ geholt habe. Damals habe ich ziemlich gezittert. Vor den Leuten zu singen, die mir all das gegeben haben und dann so anders zu singen: das ist nicht einfach. Da habe ich gedacht: wenn ich das mal überlebe. Und die Frauen sind kritisch, sehr kritisch. Aber dann habe ich das bis heute größte Lob gehört: ,Du veränderst das sehr, aber die Seele bleibt.’ Und wenn das passiert, dann ist es glaube ich egal ob es authentisch, Rock, Jazz oder Pop ist. Wenn die Seele und die Aufrichtigkeit bleibt, dann ist alles in Ordnung.“
Ist es ethisch richtig die intime musikalische Welt eines Dorfes auf die Bühne zu bringen?
„Das ist immer die Frage: was zeigt man und wie zeigt man es. Ich glaube, dass ich in meiner Musik mit diesen Kräften spiele. Mir ist bewusst, dass dieser Gesang an sich eine Kraft hat, aber ich sage immer: ich bin Künstlerin, ich bin Schauspielerin auf der Bühne und jedes Konzert ist wie ein Schauspiel. Es gibt eine Maske und durch mich, dadurch, dass ich mich für Euch verändere könnt ihr hineinschauen in etwas, wo man nicht so einfach eine Tür aufmachen kann. Also ich öffne sozusagen nur Türen. Türen zur Vergangenheit, zu dieser Energie, diesem Mystizismus und dann mache ich sie wieder zu. Und dann ist das Konzert zu Ende.“
Interview: Eckehard Pistrick und Helen Hahmann
Transkription: Eckehard Pistrick
Das vollständige Interview ist auf Anfrage erhältlich.
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