(Buch mit Audio-CD)
Auszug aus dem Buch “Versteckte Stimmen” von Eckehard Pistrick [hier]
Erschienen bei: [destinatio]
“Ich suche die Lieder” – Eine Reise durch das Epirus-Gebirge mit dem Auftrag bis ins Herz albanischer und griechischer Volkstradition vorzudringen
Die Gesichtszüge des jungen Mannes, der getrieben von ungebändigter Neugier durch die Bergdörfer des Epirus-Gebirges zieht, erinnern die Menschen im nordgriechischen Dorf Agia Mariana an Goran Bregovic. Vielleicht fällt die Assoziation gerade deshalb mit einem Musiker zusammen, weil der Besucher die Gegend ausgerüstet mit Kamera und Mikrophon durchstreift. Jeden Schritt und jeden Gedanken seiner abenteuerlichen Reisebegegnungen hält er außerdem in einem kleinen Notizbüchlein fest. Manchmal sind es Gedankenfetzen, Gefühlsregungen oder aufmerksame Beobachtungen, manchmal sind es albanische Schimpfwörter oder italienische Städtenamen auf Griechisch, die das Büchlein füllen. Auf der Suche nach den fast vergessenen Liedern lernt er sich auf „chaotischen Kraterstraßen” in abgelegene Dörfer durchzuschlagen, begegnet in den Erinnerungen der Sänger den Nachwehen des griechischen Bürgerkrieges und den Schmerzen der Migration, ringt sich durch frisches Schafshirn zu essen und trifft alte Sänger, wie etwa die vier Herren mit Strohhut, die beginnen „beflügelt von einer vollen Flasche Tsipouro in traditioneller Dreistimmigkeit zu singen”.
Metaphernreich und zielstrebig berichtet das Tagebuch von den Reisen durch das Grenzgebiet zwischen Albanien und Griechenland im Spätsommer 2006. Es ist das Buch eines deutschen Musikethnologen, der überwältigt von den Eindrücken der Reise, festzuhalten versucht, was flüchtig und in ungebremsten Tempo an ihm vorbei rauscht, wenn er in nur wenigen Tagen unzählige Dörfer, Menschen und Lieder kennenlernt. Es ist die eilige Reise durch unbekanntes Land. Sie wird von einer Mission getragen, die heute noch mehr als zu Erich Stockmanns Zeiten in höchstem Maße dringlich ist – es gilt jene Lieder zu sammeln, die drohen unterzugehen, so wie „die Sonne versinkt an den von Bäumen gekrönten Bergrändern am Pawla-Fluss”. Gedanken flackern auf, verflechten sich in poetischen Beschreibungen zu einer erfüllten, lebendigen Landschaft. Der Leser durchlebt diese Reise als Beobachter. So wie der Fahrgast eines Schnellzuges es genießt, unbekannte Gegenden, die vor seinem Fenster vorbeihuschen, mit seinen Blicken zu berühren, so gewährt diese atemlose Momentaufnahme, Einblicke in die Gedankenwelt eines – in romantischstem Sinne -Reisenden zwischen den Welten.
Ob er sich in Deutschland an sie erinnern werde, fragt ihn die Frau eines Sängers: „Ich werde es versuchen”, gibt ihr das Buch zur Antwort und verewigt damit diese Begegnung. Und ohne, dass es der junge Mann, in dessen Augen sich die Sänger einer ganzen Region widerspiegeln, in jenen Momenten ahnen mochte, singt man im Epirus in einigen Jahren vielleicht ein Lied, das von diesem rastlosen Wanderer erzählt. (HH)